Facharbeit von Lena Brüser über das KGL Wickrathberg


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Hugo-Junkers- Gymnasium

Brucknerallee 58

41236 Mönchengladbach

 

Facharbeit

Im Schuljahr 2005/2006

Geschichte bei Herrn Marx

 

Von Lena Brüser

 

Thema:

Das Kriegsgefangenenlager Wickrathberg, unter Berücksichtigung von Literatur und Zeugenbefragung

 


1.0 Einleitung

 

Ungefähr auf der Hälfte des Wegs zwischen Wickrathberg und Hochneukirch findet man einen Findling. Er wirkt unscheinbar, fast nutzlos, wenn man auf der Landstraße an ihm vorüberfährt. Man erkennt erst, wozu er dort steht, wenn man sich die Mühe macht und stehen bleibt, um noch einen zweiten Blick auf ihn werfen zu können. Erst jetzt sieht man die kleine Bronzetafel, die vorne in ihn eingelassen ist mit der schlichten Inschrift, „Zur Erinnerung an das Kriegsgefangenenlager Wickrathberg“. Darunter findet sich eine Skizze, welche die Umrisse und Dimensionen des Lagers darstellt.

 

Bis vor einigen Monaten wusste ich nicht einmal, wo genau sich dieses Lager befunden hatte, geschweige denn, mit welch gewaltigen Ausmaßen, bis ich durch Zufall genau an diesem Denkmal, das erst 1988 eingeweiht wurde, vorbei spazierte. Man kann durchaus sagen, dass ich entsetzt war, so wenig über die eigene Geschichte in so unmittelbarer Nähe zu wissen und musste bald feststellen, dass es nicht nur mir so erging, sondern, dass viele Leute, die zur Zeit des Zweiten Weltkriegs noch nicht lebten, keine Ahnung hatten, was sich direkt vor den Grenzen von Wickrathberg abgespielt hatte.

 

Wenn man hingegen einmal genauer in lokale Zeitungen blickt, finden sich immer noch häufig Artikel über einzelne Insassen oder Ehemaligentreffen des Gefangenenlagers, was die Frage aufwirft, warum dieses Lager heute, 60 Jahre nach Kriegsende, noch so viele Menschen beschäftigt, auch wenn man, außer dem Denkmal, keine Überbleibsel mehr von ihm findet.

 

Man könnte sagen, dass es den Gefangenen ganz recht geschah, dass man sie in ein solches Lager sperrte, wenn man überlegt, welche Kriegsverbrechen die Deutschen im zweiten Weltkrieg verübten, doch wenn man seinen Blick auf einzelne Schicksale der Soldaten richtet, wird einem klar, dass nicht sie es sind, die man für diese Taten verantwortlich machen kann.

 

Ich will in den folgenden Ausführungen, über das Kriegsgefangenenlager Wickrathberg, versuchen, die Situation der Gefangenen und des Lagers selbst zu erläutern, indem ich sowohl historische Fakten darlege als auch Berichte von Zeitzeugen hinzuziehe.

 

Wenn man über die Soldaten im Lager oder allgemein im Krieg nachdenkt, sieht man sie selten als individuelle Persönlichkeiten. In unseren Vorstellungen verschwimmen sie zu einer grauen Masse, bilden eine Einheit ohne Unterschiede. Aus diesem Grund war es mir wichtig, in meiner Facharbeit verschiedene Beispiele von Erlebnisse einzelner Gefangenen des Lagers darzustellen. Dabei darf man natürlich die objektiven Fakten auch nicht beiseitelassen, da man sich ohne sie die Not und das Elend der Gefangenen gar nicht vorstellen könnte.


2.0 Hauptteil

 

2.1 Allgemeine Informationen

 Das Kriegsgefangenenlager Wickrathberg befand sich zwischen Wickrathberg und Hochneukirch, mit einer Gesamtfläche von ca. 3 km²,[1] auf der, von Ende April bis September 1945, zwischen 100.000 und 150.000 ehemalige deutsche Soldaten gefangen gehalten wurden.

Diese Fläche war jedoch in einzelne „Camps“ unterteilt, von denen es insgesamt 32 gab. In diesen lebten jeweils bis zu 5000 Soldaten unter freien Himmel, ohne jeglichen Schutz vor Regen oder Sonne.

Zunächst wurde das Lager von Amerikanern errichtet und geleitet, später, am

12. Juni 1945, wurde es von britischen Soldaten übernommen.[2]

 

2.2 Der Aufbau des Lagers

Die Planung des PoW TE A-9[3] begann am 25. April 1945, als drei amerikanische Offiziere dem damaligen Bürgermeister von Wickrath, Franz Otten, einen Besuch abstatteten, um ihn über die geplante Errichtung des Lagers in Kenntnis zu setzen. Über 300 Arbeitskräfte wurden für den Aufbau benötigt, die zu diesem Zweck „zwangsverpflichtet“[4] wurden. Sie kamen sowohl aus Wickrath wie auch aus den umliegenden Gemeinden, wie Jüchen, Garzweiler oder Rheydt.

Um die von den Amerikanern vorgeschriebene Fläche einhalten zu können, mussten mehrere Bauernhöfe zwangsgeräumt werden, da sie mitten im geplanten Gebiet lagen. Diese Bauernhöfe dienten während der Lagerzeit als Offiziersunterkünfte und Lagerstätten für die Lebensmittelrationen.

Das Holz für das Lager beschaffte man sich aus nahegelegenen Wäldern, die Einrichtung für die Lagerverwaltung organisierte man aus Schulen.

 

2.3 Die Gefangenen

Die ersten Gefangenen kamen schon kurz nach Fertigstellung des Lagers, sie wurden in Güterwaggons, in denen sie die gesamte Fahrt nur stehend verbringen konnten, bis zum Wickrather Bahnhof gebracht, von wo aus sie zu Fuß ins Lager marschieren mussten. Schon bei ihrer Ankunft waren sie stark geschwächt und geplagt von Hunger, diesen sollten sie in den nächsten Monaten auch nicht mehr loswerden. Zu Beginn durften die Bewohner der umliegenden Dörfer ihnen nicht einmal Nahrungsspenden bringen, wodurch die Not der Soldaten nur noch mehr gesteigert wurde. Erst später wurden diese „Liebesgaben“ bewilligt und auch der Briefkontakt zu den Insassen gestattet, der zuvor auch nicht erlaubt war.

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[1] Über diese Angabe finden sich verschieden Daten in den Quellen, ich beziehe mich auf meine Hauptquelle von Herbert Reiners „Kriegsgefangenenlager Wickrathberg 1945“, 1998, S.53

[2] Reiners 1998, Abschnitt 4.1, S. 99

[3] So die amerikanische Bezeichnung für das Kriegsgefangenenlager Wickrathberg, Prisoner of War Transition Enclosure A-9

[4] Rheinische Post, 22.5.1965, „die Not im Lager war unbeschreiblich groß“


Deshalb warfen einige Gefangene Steine über die Zäune des Lagers, an die sie Zettel mit ihren Namen und Adressen befestigten, die, so berichtete mir Marianne Croon[5], von Bewohnern der umliegenden Dörfer eingesammelt wurden. Anschließend brachte man, sofern man die Möglichkeit dazu hatte, diese Mitteilungen an die Familien der Soldaten in die umliegenden oder auch weiter weg gelegenen Dörfer. Der Kontakt zu Mitgliedern der Dorfgemeinde mit den Insassen des Lagers blieb jedoch meistens aus, da man die Gefangenen nur dann sah, wenn diese durch Wickrathberg geführt wurden, entweder zur Arbeit auf Bauernhöfen, oder wenn sie zum Bahnhof gebracht wurden, bzw. von dort kamen. Während dieser Märsche versuchten viele Gefangenen den Leuten Nachrichten zu übermitteln, oder man schmuggelte ihnen heimlich Lebensmittel unter.

 

Dann und wann gelang es einigen Gefangenen aus dem Lager zu fliehen, indem sie Löcher unter den Zäunen hindurch gruben und diese anschließend tarnten. Diese Flüchtlinge erhielten oft die Hilfe der Bevölkerung, indem man sie mit Proviant versorgte oder ihnen unauffällige Wege empfahl, auch daran erinnerte sich die Zeitzeugin Croon, die damals zwanzig Jahre alt war und Anfang Mai 1945 wieder nach Wickrathberg aus der Evakurierung zurückkehrte, ebenso wie an Frau Lüderitz, die Frau vom Pastor in Wickrathberg. Diese legte den Soldaten heimlich Lebensmittel auf die Fensterbank, wenn diese an ihrem Haus vorbeikamen, obwohl dies streng verboten war und hart bestraft wurde. „Komischer Weise schienen die Amerikaner Respekt vor der Kirche zu haben, die haben dann schon mal ein Auge zugekniffen.“[6]

 

Die Gefangenen waren Soldaten jedes Alters, sogar Kinder und Greise waren unter ihnen, da sie im „letzten Aufgebot“ der Deutschen eingezogen worden waren. Man machte keinen Unterschied zwischen einfachen Soldaten und höheren Dienstgraden, alle hatten das gleiche Schicksal zu erleiden. Eine Ausnahme gab es jedoch, Angehörige der SS oder der Gestapo wurden anhand ihrer Tätowierungen identifiziert und in andere spezielle Lager verlegt. Die Verheimlichung von solchen Mithäftlingen führte zu harten Strafen für das gesamte Camp.

 

Doch gingen die meisten Gefangenen davon aus, dass sie trotz allen Leids Glück gehabt hatten, nicht in ein russisches Gefangenlager geraten zu sein, da in diesen nicht nur Hunger, sondern auch “trostlose Hoffnungslosigkeit“[7] verbreitet war. Außerdem kamen in amerikanischen Lagern weniger Misshandlungen an Gefangenen vor, da die Wachleute den Gefangenen gegenüber eher desinteressiert als hasserfüllt eingestellt waren.

 

2.4 Die Erdlöcher

Da das Lager selbst den gefangenen Soldaten keinerlei Unterschlupf bot, sahen sie sich gezwungen mit ihren bloßen Händen oder mit Hilfe von einfachen Blechdosen Löcher zu graben, um wenigstens ein bisschen Schutz vor den Witterungsverhältnissen zu finden. Doch selbst wenn man es schaffte, sich ein solches Loch zu graben, war die Chance in ihm zu überleben nicht besonders hoch, da es, wenn es regnete, voll Wasser lief und die Schutzsuchenden im Schlaf ertrinken konnten.

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 [5] Zeitzeugin, wohnhaft in Wickrathberg

 [6] Zeitzeugin Marianne Croon

 [7] Stadtarchiv, Akte: 14/6141 „Darben auf den Rheinwiesen“


Ebenso möglich war es, dass die Erdmassen dem Wasser nicht mehr standhielten und die Bewohner lebendig unter sich begruben, in diesen Situationen war es fast aussichtslos den Sterbenden zu helfen. Nur wenige hatten das Glück und konnten durch eine Zeltplane wenigstens Teile ihres Körpers vor Nässe und Kälte schützen, man lag jedoch immer noch im Morast des aufgeweichten Bodens.

Einige Soldaten teilten sich diese Erdlöcher, um sich ein bisschen Wärme spenden zu können, was die Situation jedoch auch nicht unbedingt einfacher machte, da durch die dadurch entstandene Enge der Schlaf nicht angenehmer empfunden werden konnte.

Einigen Gefangenen gelang es dennoch sich ihre Erdlöcher einigermaßen abzudichten, mit Hilfe von Pappe und Ähnlichem, dadurch konnten sie sich wenigstens etwas vor dem Regen schützen.

Als das Lager in britische Hand wechselte, empfanden die Briten die Zustände des Lagers als menschenunwürdig und ordneten an, dass an Stelle der Erdlöcher Zelte angeschafft wurden.[8] Dadurch änderte sich die Situation für die Gefangenen insofern, als dass sie entweder in Großraumzelten oder in den beliebteren kleineren Zelten für vier Personen untergebracht wurden. Einigen war dieses enge Beisammensein mit den Mitgefangenen jedoch eher unangenehm, so dass sie sich lieber wieder in ihre Erdlöcher zurückzogen.

 

2.5 Hygiene

Auch die hygienischen Zustände im Lager waren unzumutbar. Es waren kaum Möglichkeiten zur Körperpflege vorhanden, so hatten die Soldaten nur Konservendosen, die ihnen als „Waschbecken“ dienten, die sie mit Wasser gefüllt zur notdürftigen Wäsche benutzen konnten. Das Positive war, dass die Versorgung mit Wasser sich immer weiter verbesserte[9], so dass es fast immer ausreichend zur Verfügung stand.

Irgendwie mussten auch die Gefangenen ihre Notdurft verrichten. Zu diesem Zweck grub man Rinnen in die Erde mit einer Tiefe von bis zu zwei Metern, die als Pissoirs genutzt wurden. Ähnliche Gruben wurden mit „Donnerbalken“ versehen. Diese Einrichtungen fanden sich in jedem der 32 Camps. Natürlich waren diese Anlagen ohne jegliche Privatsphäre oder einen Sichtschutz.

In manchen Camps wurden diese Latrinen nach und nach in Plumpsklos umgewandelt, die, auch wenn sie ebenfalls weder Sicht- noch Regenschutz boten, geradezu „komfortabel“ waren, da man nicht mehr ganz so viel Angst davor haben musste, das Gleichgewicht zu verlieren und in die Latrine zu fallen.

 

2.6 Verpflegung

Zu Beginn des Lagers war die Versorgung mit Trinkwasser sehr schlecht, das Wasser wurde aus der Niers abgepumpt und in Tonnen umgefüllt und wies natürlich viel Dreck und Bakterien auf, deshalb wurde das Wasser gechlort, wodurch viele Gefangenen an Magen- Darmerkrankungen litten. Um das wertvolle Trinkwasser zu bekommen, mussten sie bis zu sieben Stunden Schlangestehen[10], um ein wenig zu ergattern.

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[8] Dazu weitere Ausführungen unter dem Punkt „Verpflegung“

[9] Stadtarchiv, Akte: 14/6141, Extra-Tipp am Sonntag, Seite 14 „sieben Stunden Schlangestehen für eine Tasse Wasser“

[10] Stadtarchiv, Akte: 14/6141, Extra-Tipp am Sonntag, Seite 14 „sieben Stunden Schlangestehen für eine Tasse Wasser“


Später hingegen wurde die Situation drastisch verbessert, da man Wasserleitungen verlegte. So konnten die Gefangenen in jedem Camp direkt an den Wasserzufluss gelangen. Die Versorgung mit Wasser stellte von nun an keinerlei Problem mehr da.

Beim Essen sah die Situation schon anders aus, das Wort, das diese wohl am besten beschreibt, ist „Hunger“. Zwar gibt es einen großen Unterschied zwischen der amerikanischen und der britischen Lagerzeit, doch war in beiden Fällen zu keinem Zeitpunkt genügend Nahrung vorhanden.

Unter amerikanischer Leitung gab es sogenannte „Warmverpflegung“, bei der in riesigen Kesseln Suppen oder Eintöpfe für die einzelnen Camps zubereitet wurden. Die Gefangenen erhielten einen halben bis einen dreiviertel Liter pro Tag und manchmal zusätzlich kleine Rationen von Brot, Fleisch, oder Zucker.

 

Die britische Lagerführung schaffte diese warmen Gerichte ab und führte hingegen die „englische Kastenverpflegung“[11] ein. Diese war zwar mengenmäßig nicht mehr als zu amerikanischen Zeiten, die Abwechslung war allerdings etwas größer, da es sogenannte süße oder fettige Pakete gab. Diese Bezeichnungen waren jeweils auf den Inhalt zurückzuführen, da die süßen Rationen zum Beispiel ein bisschen Schokolade enthielten, was natürlich großen Anklang bei den Gefangenen fand.

Diese Rationen mussten allerdings immer mit vier Mann geteilt werden, wodurch die Gefangenen also nur ein Viertel der Ration eines britischen Soldaten bekamen. Das Teilen selbst führte schon zu vielen Problemen zwischen den Soldaten, da es natürlich viel Futterneid und Konkurrenz zwischen den Angehörigen einer solchen Vierergruppe gab.

Die „Kästen“ fanden im Allgemeinen eine große Zustimmung bei den Gefangenen, da dadurch das Wachpersonal nichts mehr von den Rationen für sich zurückhalten konnten, wie es bei den Amerikanern der Fall gewesen war. Die Verteilung war gerecht, da es egal war, ob man als erster oder als letzter an der Reihe war, alle bekamen das Gleiche.

Neben diesen Rationen spielte Brot eine entscheidende Rolle für die Gefangenen, da dieses Grundnahrungsmittel natürlich sehr hungerstillend war.

 

Die Brotverteilung im Lager war sehr unterschiedlich und konnte große Schwankungen innerhalb von nur zwei Tagen aufweisen. Vor allem von Spenden der Bevölkerung erhielten die Gefangenen ihre Brote, die heimlich über den Zaun des Lagers geworfen wurden, bis Nahrungsspenden erlaubt wurden.

Um dem Hunger zu entgehen, begannen viele Lagerinsassen zu rauchen, da dadurch der Hunger etwas gelindert wurde. Aber Zigaretten hatten auch eine große Bedeutung als Zahlungs- bzw. Tauschmittel. Paul Quack tauschte sogar seinen goldenen Ehering gegen zwanzig Zigaretten ein[12]. Diese wurden dann zum Beispiel gegen Brot eingetauscht. Acht Zigaretten entsprachen einer Scheibe Brot! Wenn man diese Zahl einmal im Verhältnis zu den erhaltenen Zigaretten für einen Ehering betrachtet, wird sehr deutlich wie groß die Not und das Verlangen nach Brot war.

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[11] Herbert Reiners, Kriegsgefangenlager Wickrathberg 1945, S.162, 1998

[12] Stadtarchiv, Akte 14/6141, Extra-Tipp am Sonntag, Seite 14, Sieben Stunden Schlangestehen für eine Tasse Wasser“


2.7 Einzelschicksale

Im Kriegsgefangenenlager Wickrathberg fanden sich Soldaten jedes Ranges und Alters ein, wodurch viele verschiedene Eindrücke und natürlich auch viele ähnliche Erfahrungen gesammelt wurden. Die Gemeinsamkeiten überwiegen, da sie alle das gleiche Schicksal zu erleiden hatten, und doch machte jeder von ihnen ganz persönliche, individuelle Erfahrungen und bildete sich Meinungen und Einstellungen, die ihn für sein weiteres Leben prägten und beeinflussten.

Für keinen der Gefangenen werden die Erfahrungen im Kriegsgefangenenlager leicht gewesen sein und doch ziehen die meisten der Gefangenen eine positive Resonanz, da sie durch ihre Zeit im Lager reifer und bescheidener wurden.

 

2.7.1 Ernst Kästing[13]

Der Soldat Erich Kästing wurde aus dem Lager in Bad Kreuznach am 7. Juni 1945 mit dem Zug nach Wickrath transportiert, von da gelangte er zu Fuß ins Lager von Wickrathberg.

Er beschreibt besonders ausführlich die Fahrt durch Südholland, bei der ihm das „unzivilisierte bis primitive Verhalten der Niederländer“ besonders auffiel, da der Zug von Steinen und ähnlichem bombardiert wurde. Ernst Kästing zeigt in seinen Ausführungen völliges Unverständnis für dieses Verhalten und keinerlei Ansätze zu Überlegungen über die Gründe dafür.

Der besondere Mangel an Nahrungsmitteln wird deutlich, als er beschreibt, wie zwei seiner Mitgefangenen einen Maulwurf häuten und ihn anschließend über einem kleinen Feuer braten. Es ist erschreckend, dass die Gefangenen selbst auf solche „Lebensmittel“ ein neidvolles Auge warfen.

Doch Erich Kästing hatte Glück und wurde schon einen Monat später, am 15. Juli 1945, wieder entlassen und per LKW bis nach Oldenburg gebracht, von dort aus machte er sich auf den Weg in seine Heimatstadt, Bremen.

 

2.7.2 Ein anonymer Insasse[14]

Dieser Gefangene des Kriegsgefangenenlagers Wickrathberg hatte seinen Wohnort in unmittelbarer Nähe des Lagers, in Odenkirchen. Dadurch war die Situation für ihn noch schwieriger, so nah der Heimat zu sein und trotzdem nicht zu wissen, wie es der Familie ging oder ihnen Nachricht senden zu dürfen.

Bevor er in das Lager von Wickrathberg kam, hatte er schon in sieben weiteren Lagern gesessen, bis er schließlich im Juni, voller Hoffnung, Richtung Heimat transportiert wurde, jedoch mit Schrecken feststellte, dass er auch hier in ein Lager gesteckt werden sollte.

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[13] Aus der Biographie von Ernst Kästing, „Wehrdienst und Kriegsgefangenschaft“, Stadtarchiv, Akte: 14/5495

[14] Dieser Gefangene schildert seine Erlebnisse in der Rheinischen Post vom 13. Juli 1965, ohne seinen Namen anzugeben.


Um wenigstens eine geringe Chance zu haben, seine Angehörigen zu unterrichten, warf er einen Zettel vom LKW, kurz bevor dieser im Lager ankam.

Ebenso wie die meisten anderen Gefangenen auch, grub er sich, mit drei Mitgefangenen, mit Hilfe einer Konservendose, ein Erdloch. Um die große Sehnsucht nach Freiheit und seinen Verwandten zu bekämpfen, versuchte er verzweifelt sich zu beschäftigen, so weit dies in diesem begrenzten Raum möglich war. So konnte er vielen Gefangen beispielsweise die Umgebung nahe bringen, da er diese ja sehr gut kannte, später erteilte er Stenographieunterricht und besuchte die abendlichen Gottesdienste[15].

Seine Freude war unwahrscheinlich groß, als der Briefverkehr mit Familienmitgliedern gestattet wurde, da er nun endlich erfuhr, dass seine Frau und sein Sohn wieder lebend nach Odenkirchen aus der Evakuierung zurückgekehrt waren.

Als er schließlich entlassen werden sollte, verzögerte sich alles um eine Woche, da die Entlassungskommissionen so lange für die Bewältigung der Papiere brauchten. Der Soldat sah diese Situation aber als durchaus positiv, da er diese Nächte in „seiner ersten richtig überdachten Unterkunft nach zweieinhalb Monaten“ verbringen konnte, nämlich einem Zelt. Doch obwohl er ja nur ein Dorf weiter wohnte wurde er von den britischen Soldaten zunächst nach Düsseldorf transportiert, bevor er sich auf den Weg nach Hause machen konnte.

Ironischerweise holte er sich, als das Lager aufgelöst wurde, gemeinsam mit seinem Sohn, ein paar der ihn ehemals eingrenzenden Pfosten, um diese als Brennholz zu verwenden.

 

2.7.3 Jürgen Kabiersch

Der damals erst 15-jährige Soldat meldete sich am Kriegsende freiwillig für die britische Besatzungszone, um der Gefahr zu entgehen in russische Gefangenschaft zu geraten oder gar nach Sibirien abtransportiert zu werden. Dabei wurde er von seiner Mutter und seine Geschwister getrennt, die in der russischen Zone verblieben. Wie alle anderen Zeitzeugen auch, beschreibt er die Versorgungszustände als mangelhaft, da die „Pulvernahrung“ der Amerikaner keinesfalls sättigend war.

Jürgen Kabiersch beschreibt sich selbst als abgestumpft, da er die Schicksale der Mitgefangenen nicht wahrnahm oder sich nicht dafür interessierte. Zwischen den einzelnen Soldaten herrschte nicht mehr die freundschaftliche Kameradschaft vor, sondern man stand sich eher teilnahmslos gegenüber.

Er gehörte zu den wenigen Jugendlichen im Kriegsgefangenenlager Wickrathberg, die sich von den älteren Soldaten weitgehend abgrenzten. Diesen Jugendlichen wurde freigestellt sich eine Art Umerziehungsrede anzuhören. Als Gegenleistung erhielten sie dann ein Stückchen Brot, wodurch dieses Angebot natürlich auch gerne angenommen wurde.

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[15] Diese Gottesdienste müssen bei den Anwohnern aus Wickrathberg sehr schaurig geklungen haben, da die leisen Gesänge bis ins Dorf zu hören waren, berichtete mir Marianne Croon.


Er beschreibt die Soldaten als völlig desillusioniert, da sich diese keinerlei Gedanken um die Zukunft machten oder an die Dauer der Gefangenschaft. Davon waren besonders die gefangenen Jugendlichen betroffen, da sie keinen Beruf hatten, den sie wieder ausüben konnten, oder eine eigene Familie, um die sie sich hätten kümmern müssen.

Die Abschlussworte von Jürgen Kabiersch weisen die Einstellung vieler der damaligen Gefangenen auf, da sie durch diese Gefangenschaft lernten mit sehr wenig im Leben zufrieden zu sein und wenig Wert auf materielle Besitztümer zu legen.

 

2.7.4 Hansheinrich Thomas und Hans Hofmeister[16]

Die beiden Männer kamen in das Lager Wickrathberg, nachdem sie zuvor schon gemeinsam im Remagener Lager gewesen waren. Als sie ankamen, gingen sie zunächst davon aus, in diesem Entlassungslager nur wenige Tage verbringen zu müssen und dann nach Hause zu können. Doch dieses Urteil wurde schon am ersten Tag von Mitgefangenen revidiert.

Die Männer kamen nicht mit Güterwaggons wie so viele andere, sondern wurden direkt per LKW ins Lager gebracht. Für sie blieben die Türen des Lagers lange Zeit verschlossen, anders als bei den politischen Gefangenen, die in Camp eins verlegt wurden, das von den anderen abgetrennt war.

Für Thomas und Hofmeister wiederholte sich die gleiche Situation wie in Remagen, auch hier gruben sie sich Erdlöcher, litten an Hunger und Kälte.

Ihre Hoffnung auf baldige Entlassung schwindet noch stärker, als sie erleben, wie eine deutsche Kompanie ins Lager zieht, da sie, völlig abgekämpft und erschöpft, nicht mehr in der Lage war weiterhin den Widerstand zu halten, den sie bis dahin in Bordeaux geleistet hatte. Als dann auch noch Zelte errichtet wurden, um den Gefangenen ein bisschen Schutz vor den kalten Herbstmonaten bieten zu können, wurden sie völlig mutlos, bald nach Hause zu kommen.

Doch schließlich erreicht auch sie die Mitteilung ihrer baldigen Entlassung, wie schon durch ihre ganze Soldatenzeit hindurch seit 1939, ebenfalls gemeinsam.

Die beiden Männer machten sich also nach über sechs Jahren auf den Weg zurück in die Heimat.

Fünf Jahre später, 1950, statteten die beiden Männer dem ehemaligen Lager noch einmal einen Besuch ab. Sie fanden keinerlei Überreste des Lagers mehr, die bestellten Felder wiesen keine Spuren mehr von den Tausenden von Erdlöchern auf, die sich hier überall befunden hatten.

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[16] Dieser Wert stammt aus einem Zeitungsartikel, im Stadtarchiv in der Akte: 14/6141, „Darben auf den Rheinwiesen“


3.0 Schlussteil

 

Obwohl das Kriegsgefangenenlager Wickrathberg nur sechs Monate existierte, hat es tiefe Spuren hinterlassen. Nicht nur bei den Soldaten, die als Gefangene in diesem Lager lebten, sondern auch bei ihren Nachkommen und allen Menschen, die mit diesem Lager zu tun hatten oder sich näher mit ihm beschäftigten.

Trotz der vielen Soldaten, die dieses Lager „bewohnten“, gab es erstaunlich wenig Todesfälle in dieser Zeit zu beklagen, nur 226 Tote.[17]Daraus sollte man jedoch nicht schließen, dass das Leid für die Gefangenen nicht groß gewesen sei. Die Toten wurden zunächst auf einem „Lagerfriedhof“ bestattet, der am Ortsanfang von Wanlo lag. Nach der Auflösung des Lagers wurden sie auf den Wickrather Ehrenfriedhof umgebettet.

 

Wie aus meinen obigen Schilderungen sicher hervorgeht, war der schreckliche, andauernde Hunger für die Gefangenen das Schlimmste. Dieses Problem konnte weder von den Amerikanern noch von den Briten gelöst werden.

Die Gefangenen waren, als sie das Lager verließen, so ausgezehrt, als hätten sie Jahre im Lager verbracht, den Wenigsten gelang es, ihre Erfahrungen aus dieser Zeit vollständig zu verarbeiten. Es gibt Personen, die es bis heute nicht geschafft haben, mit ihren Angehörigen über diese Erlebnisse zu sprechen.

 

Selbst nachdem die Soldaten aus dem Lager entlassen worden waren, fiel es vielen sehr schwer, sich in das normale Leben, soweit dieses so kurz nach Kriegsende existierte, wieder einzuleben. Sie hatten Jahre als Soldaten verbracht und mussten in dieser Zeit kaum eigene Entscheidungen treffen, sondern weitgehend Befehle ausführen. Sie waren eine Einheit, stellten jedoch keine Individuen dar und sollten sich auch nicht wie solche verhalten. Einzelne Persönlichkeiten müssen im Krieg immer zurückstehen. Diese Situation änderte sich auch nicht für sie, als sie in das Gefangenenlager kamen. Auch hier hatten sie sich der Lagerleitung zu fügen und hatten ebenfalls keinerlei Möglichkeiten sich selbst zu bestimmen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass viele der ehemaligen Gefangenen sich nach ihrer Freilassung unsicher und unmündig fühlten.

Die Schicksale der Soldaten mögen noch so verschieden sein, ihre Erfahrungen im Lager hatten für alle etwas Belehrendes. Zum Beispiel lernten sie, nicht so viel materiellen Besitz in ihrem Leben zu brauchen, um glücklich zu sein. Die Erfahrungen prägten sie und machten sie zu den Menschen, die sie später werden sollten. Anhand der unterschiedlichen Einzelschicksale wollte ich aufzeigen, wie verschieden die Gefangenen waren, auch wenn es auf den ersten Blick so wirkt, als hätten sie alle die gleichen Erlebnisse zu schildern. Den meisten Insassen dieses Lagers kann man keine Schuld am Krieg oder an seinen Folgen vorwerfen, da auch sie nur als Werkzeuge der Politik und der Mächtigen benutzt wurden.

 

Ich halte es für sehr wichtig sich seiner eigenen Geschichte bewusst zu werden. Man muss versuchen, sich selber ein Bild über historische Fakten zu machen und nicht auf die Meinungen oder Schilderungen von anderen zu verlassen. Ihre Meinung zu seiner eigenen werden zu lassen, ist das Schlimmste, was man heute tun kann, denn wenn man nicht seinen eigenen Verstand benutzt, ist eine Wiederholung der Ereignisse des Zweiten Weltkriegs nur zu leicht möglich.

Ich kann für mich ein durchweg positives Fazit dieser Facharbeit ziehen, da ich selbst viel gelernt habe, nicht nur über dieses doch sehr interessante Thema, sondern auch über Arbeitstechniken und Methoden zur Erstellung einer Textarbeit mit wissenschaftlichem Anspruch.

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[17] Dieser Wert stammt aus einem Zeitungsartikel, im Stadtarchiv in der Akte: 14/6141, „Darben auf den Rheinwiesen“


Literaturverzeichnis

 

1) Buchquellen

  • Herbert Reiners, Kriegsgefangenenlager Wickrathberg 1945
    Ein Beitrag zur Mönchengladbacher Stadtgeschichte,
    Herausgeber: Verein für Heimat- und Denkmalpflege Wickrathberg, 1998
  • Hansheinrich Thomas und Hans Hofmeister, Das war Wickrathberg,
    Erinnerungen aus den Kriegsgefangenlagern des Rheinlandes,
    J. C. C. Bruns’ Verlag, Minden i. Westfalen, 1950
  • Paul Brägelmann (Hrsg.), Auf den Rheinwiesen 1945, 101 Tage Kriegsgefangenschaft,
    Günter Runge Verlag, Cloppenburg, 1992
  • Herbert Reiners, Stadthallen-Lazarett Rheydt 1945, ein Beitrag zur Mönchengladbacher Stadtgeschichte,
    Herausgeber: Heimat- und Denkmalpflege Wickrathberg, 1999
  • Michael Marx, Wickrath: Grafschaft, preußische Gemeinde, disponibler Bezirk Mönchengladbachs,
    Manuskript, 2000
  • Auszug aus der Biographie von Ernst Kästing, Wehrdienst und Kriegsgefangenschaft,
    Stadtarchiv Akte: 14/6195

 

2) Zeitungen/ Zeitschriften

  • Rheinische Post, Wir lebten in Wickrath in einer Erdhöhle,
    13.7.1965, Stadtarchiv, Akte.14/2924
  • Rheinische Post, Die Not im Lager war unbeschreiblich groß,
    22.5.1965, Stadtarchiv, Akte: 14/2924
  • Neues Rheinland 11/97, Darben auf den Rheinwiesen,
    Stadtarchiv, Akte: 14/6141
  • Niersbote, Ehemalige Insassen des Kriegsgefangenlagers
    zu Gast in Wickrathberg, 18.11.2005

 

3) Briefe / Befragungen

  • Zeitzeugenbefragung von Marianne Croon,
    wohnhaft in Wickrathberg, Berger Dorfstraße 64
  • Telefonische Befragung von Jürgen Kabiersch,
    wohnhaft in Wuppertal, Gronaustraße 52
  • Brief von Jürgen Kabiersch, vom 21.1. 2001
    adressiert an Herrn Michael Marx